Herrenchiemsee Geschichte

Klosterinsel – Königsinsel – Verfassungsinsel

Die Insel Herrenchiemsee zeichnet sich durch drei Aspekte aus:
Sie ist Klosterinsel, Königsinsel und Verfassungsinsel.

Die meisten Besucher kommen nach Herrenchiemsee unter dem Aspekt
der Königsinsel.
Über 300.000 Besucher jährlich strömen zum Königsschloss; die meisten
von Ihnen gehen achtlos an den historischen Gebäuden im Norden der
Insel vorüber.
Dort gründete ein irischer Mönch namens Eustasius schon vor 629 mit
Einverständnis des bayerischen Herzogs ein Kloster. Archäologische
Untersuchungen aus den Jahren 1979 – 1989 haben bestätigt, dass Anfang
des 7. Jahrhunderts ein Kloster mit einer Holzkirche errichtet wurde, dem
von Anfang an auch Nonnen angehörten, während die Abtei
Frauenchiemsee als adeliges Damenstift erst 782 von Herzog Tassilo III.
gegründet wurde.

Bereits um 750 können wir nach den archäologischen Forschungen von
einer Steinkirche ausgehen, einer dreischiffigen Basilika. Diese Zeit stellt
wohl einen ersten Höhepunkt der Klostergeschichte dar.
Wir wissen aus Salzburger Quellen, dass 749 zwei slawische Fürstensöhne
aus Karantanien auf Herrenchiemsee getauft wurden. Eine schlichte Tafel
an der alten Pfarrkirche St. Maria weist auf dieses Ereignis hin.
Herrenchiemsee entwickelte sich so zum Zentrum der Salzburgisch-
Bayerischen Slawenmission, die sich nicht nur nach Karantanien, dem
heutigen Slowenien und Kärnten, sondern auch nach Pannonien bis zum
Plattensee erstreckte. Um 750 kam der erste namentlich bekannte Abt
nach Herrenchiemsee, der Ire Dubdá Chrich, der als Wanderbischof im
Gefolge des hl. Virgil zunächst in Salzburg wirkte, dort aber, nachdem Virgil
749 selbst die Bischofsweihe empfing, nicht mehr gebraucht und deshalb
ehrenvoll nach Herrenchiemsee „entsorgt“ wurde.

Tassilo III., der letzte Herzog aus dem Geschlecht der Agilolfinger, hat das
Kloster Herrenchiemsee in reichem Maße gefördert, das sich zum
Hauskloster der Agilolfinger entwickelt hatte.
Nach dem Sturz Tassilos III. durch seinen Vetter Karl den Großen auf dem
Reichstag zu Ingelheim 788 schenkte König Karl das Kloster auf der
Herreninsel dem Bischof von Metz. Im Jahr 891 tauschte der ostfränkische
König Arnolf, ein Neffe der sel. Irmengard von Frauenchiemsee,
Herrenchiemsee gegen das Kloster Luxeuil in Burgund ein und schenkte
anschließend Insel und Abtei dem Erzbistum Salzburg.
Mitte des 10. Jahrhunderts brannten Kloster und Kirche nieder –
vermutlich als Folge eines Einfalls der Ungarn -; um das Jahr 1000 ist jedoch
schon wieder eine Steinkirche gleicher Größe nachweisbar.
Im Laufe der Zeit wandelte sich das Kloster in ein sog. Kollegiatstift um,
d.h., Weltgeistliche lebten hier ohne Bindung an einen bestimmten Orden
zusammen.

Im Zuge der Reformen nach dem Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst
führte der Salzburger Erzbischof Konrad I. im Jahr 1131 die Augustiner-
Chorherrenregel auf Herrenchiemsee ein.
Als Vorbild diente das Leben des hl. Augustinus (+430 ), der als Bischof von
Hippo in Nordafrika gewirkt hatte und zu den großen Kirchenlehrern
gehört. Die Chorherren, studierte Kleriker, kennen kein Privateigentum und
sollen sich ganz der Seelsorge widmen. Leiter der Gemeinschaft ist der
Propst, der von den Chorherren gewählt wird. Die bereits bestehende
Kirche bauten die Chorherren als ihre Stiftskirche zu einer romanischen
Basilika um, Stiftspatrone wurden die Heiligen Sixtus und Sebastian.
Erzbischof Konrad I. teilte zur besseren Verwaltung sein riesengroßes
Bistum, das praktisch das gesamte Ostalpengebiet umfasste, in
Archi(erz)diakonate ein, wobei er ein Archidiakonat Chiemsee bildete und
verfügte, dass der jeweilige Propst in Personalunion immer zugleich
Archidiakon sein solle, eine Regelung, die bis zur Säkularisation beibehalten
wurde. Das Archidiakonat Chiemsee ist begrenzt durch eine Linie, die unter
Einschluss des Klosters Seeon von dort nach Westen führt und auf der
Höhe von Rott am Inn auf diesen trifft; der Inn bildet sodann die
Westgrenze sowohl des Erzbistums Salzburg als auch des Archidiakonats
Chiemsee bis zum Zillertal; anschließend verläuft die Grenzlinie auf der
östlichen Seite des Flusses Ziller bis zur heutigen österreichisch-
italienischen Staatsgrenze in der Nähe des Brenners , wendet sich dann
zunächst nach Osten und schließlich nach Norden unter Einschluss der
Gerlosplatte, um weiter identisch mit der heutigen und damaligen Grenze
zwischen den österreichischen Bundesländern Salzburg und Tirol zum
Dreiländereck am Scheibelberg nahe der Winklmoosalm zu führen, von
dort unter Einschluss des Achentals zum Chiemsee; unter Ausschluss des
östlichsten Teils des Chiemsees mit Chieming, der schon zum Archidiakonat
Baumburg gehörte, führt die Grenze unter Einbeziehung der Fraueninsel
durch den See wieder nördlich nach Seeon.
Der Archidiakon übte kirchliche Jurisdiktion, Strafgewalt und Zensur aus,
besetzte die Pfarrstellen und visitierte die Pfarrer.

Fast 100 Jahre später organisierte der Salzburger Erzbischof Eberhard II.
sein Bistum wiederum neu und errichtete 1216 auf der Herreninsel das
Bistum Chiemsee, Vom Papst erkämpfte er sich das Recht , dass nur die
Salzburger Bischöfe (und nicht der Papst) den Chiemseebischof ernennen,
investieren und belehnen. Das Bistum war flächenmäßig kleiner als das
Archidiakonat: es umfasste nicht die Fraueninsel und reichte an seiner
Westgrenze bis auf etwa 20 km nicht an den Inn, die Grenze zwischen dem
Erzbistum Salzburg und dem Bistum Freising.
Der Dualismus zwischen Bischof und Archidiakon /Propst, die immer
verschiedene Personen waren und sich einmal mehr, einmal weniger gut
verstanden – mehrere Male musste ein päpstliches Gericht, die Rota
Romana, Streitfragen entscheiden – prägte die Geschichte
Herrenchiemsees bis zur Säkularisation. Vor allem war der
Chiemseebischof immer zugleich Weihbischof von Salzburg mit
Residenzpflicht in Salzburg und besaß auf Herrenchiemsee nichts außer
seinem Bischofsthron.
Für das Chorherrenstift bedeutete der Bischofssitz eine Aufwertung:
die Stiftskirche wurde zur Domstiftskirche, die Chorherren zu Domherren,
der Stiftspropst zum Dompropst. Er blieb der Herr der Insel.
Mitte des 15.Jahrhunderts wurde die Domstiftskirche im Stil der Gotik
umgebaut und erhielt zwei Spitztürme.

Nachdem im 16. Jahrhundert das Stift einen wirtschaftlichen Niedergang
erlebte, kam im 17. Jahrhundert – während des 30-jährigen Kriegs – und
Anfang des 18. Jahrhunderts wieder ein Aufschwung. Vier tatkräftige
Pröpste gaben der Klosteranlage ab 1642 ihr heutiges Aussehen.
Einer von ihnen, Propst Rupert Kögl, war für die Barockisierung der
Domstiftskirche verantwortlich, was einem Neubau gleichkam.
Ein fünfter besonders baufreudiger und kunstsinniger Propst, Floridus
Rappel, ein Bauernsohn aus Schleching, holte den berühmten Münchner
Hofmaler und Stukkateur Johann Baptist Zimmermann an den Chiemsee.
Er ließ von diesem die Priener Pfarrkirche als Juwel des Rokokos
umgestalten und auf der Herreninsel den Bibliothekssaal im östlichen
Flügel des Klostergevierts einbauen und ausschmücken. Unweit des Doms
errichtete Propst Floridus ein Seminargebäude, die heutige
Schlosswirtschaft.

1803 fiel das Chorherrenstift mit der gesamten Anlage der Säkularisation
zum Opfer. Die Insel mit allen Gebäuden wurde versteigert und gelangte
über verschiedene Eigentümer, von denen sich einer besonders dadurch
hervortat, dass er das Domgebäude durch Einbau einer Brauerei
schändete, im Jahr 1873 an König Ludwig II. Die Herreninsel wurde zur
Königsinsel, von 1876 bis zu seinem Tod im Jahr 1886 baute Ludwig nach
dem Vorbild von Versailles an seinem berühmten Märchenschloss.
Prinzregent Luitpold öffnete das Schloss 1887 den Besuchern, die seitdem
Jahr für Jahr auf die Herreninsel strömen.

Für uns Zeitgenossen besonders wichtig ist der 10. August 1948:
Auf Einladung des bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Hans Ehard trafen
sich an diesem Tag in Zimmer Nr. 7 des Chorherrenstifts hochrangige
Verfassungsexperten aus den westdeutschen Ländern, um in nur 14 Tagen
einen vollständigen Entwurf einer Verfassung für die drei westlichen
Besatzungszonen mit Begleittext und Kommentar zu erarbeiten. In
wesentlichen Teilen wurde dieser Entwurf vom verfassungsgebenden
Parlamentarischen Rat in Bonn übernommen und trat am 24. Mai 1949 als
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Insbesondere
findet sich Artikel 1 des Herrenchiemseeentwurfs im Grundgesetz wieder,
wonach die Würde der menschlichen Person unantastbar und die
öffentliche Gewalt in all ihren Erscheinungsformen verpflichtet sei, die
Menschenwürde zu achten und zu schützen. Diese Garantie der
Menschenwürde als ideeller Ausgangspunkt aller Grundrechte ist eine
Erfindung der Verfassungsväter von Herrenchiemsee. Sie ist jetzt auch
Inhalt des Artikels 1 der europäischen Grundrechtscharta und gehört damit
zu den tragenden Konstitutionsprinzipien der Europäischen Union.

Die Vereinigung der Freunde von Herrenchiemsee, gegründet im Jahr 1961,
widmet sich satzungsgemäß der Pflege, Wiederherstellung und
wissenschaftlichen Bearbeitung der Kulturgüter von Herrenchiemsee. So
hat die Vereinigung anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens im Jahr 2011
unter dem Titel „Herrenchiemsee – Kloster Chorherrenstift Königsschloss“
ein wissenschaftliches Werk herausgegeben, das im Buchhandel zu
erwerben ist (Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, ISBN 978-3-7917-2332-
7), auch im Priener Haus des Gastes, auf der Herreninsel im Museum
Chorherrenstift und auf der Fraueninsel im Klosterladen.

Ein zentrales Anliegen unserer Vereinigung war es von Anfang an, dass das
Gebäude der ehemaligen Dom-und Stiftskirche wieder in einen Zustand
versetzt werde, der seiner religiösen und historischen Bedeutung gerecht
werde. 60 Jahre nach Gründung der Vereinigung ist dieser Wunsch in
Erfüllung gegangen: am 5. August 2021 konnte nach zweijährigen
Renovierungs-und Erschließungsmaßnahmen das ehrwürdige Bauwerk
wieder eröffnet werden.

Ein weiterer Schwerpunkt für unsere Vereinigung ist es, Herrenchiemsee
als Verfassungsinsel in das Bewusstsein der Allgemeinheit zu rücken und
seine Bedeutung als demokratischen Erinnerungsort und Symbolort des
Föderalismus herauszustellen. Die Werte, die im Sommer 1948 vom
Verfassungskonvent formuliert wurden und nach wie vor größte Aktualität
besitzen, sollen vor allem der Jugend nahegebracht werden.

von Dr. Friedrich von Daumiller